Die Eziden

Der Stifter Albert Sevinc stammt aus einem Ort im türkischen Teil Mesopotamiens, dessen Bevölkerung einst weitgehend aus Aramäern und Armeniern zusammengesetzt war. Eine andere im türkischen Teil Mesopotamiens beheimatete Bevölkerungsgruppe sind die Eziden. Sie blicken ebenso wie die Aramäer und Armenier auf eine lange Geschichte zurück, in der sie wegen ihres Glaubens oft grausam verfolgt wurden. Über ihre Religion, Kultur und Geschichte ist in der Öffentlichkeit bis heute kaum etwas bekannt. Die Aramäer und Armenier hingegen kennen die Eziden als eine Gemeinschaft, mit der sie in friedlicher Nachbarschaft gelebt haben.

Religion und Identität

In Mesopotamien existierten viele verschiedene Religionen, von denen manche im Laufe der Zeit entweder vollkommen verschwunden sind oder heute nur wenige Anhänger haben. Je nachdem, wer die Herrschaft ausübte, setzte sich eine bestimmte Religion durch, während die unterlegene oft blutig verfolgt wurde. Zu diesen zählt das Ezidentum. Das Ezidentum ist eine monotheistische Religion, dessen Wurzeln bis 2.000 Jahre vor dem Christentum liegen. Es enthält zahlreiche Elemente der in der Region verbreiteten Religionen: dem Mithraismus und dem Zoroastrismus.

Von den später entstandenen drei „Buchreligionen“ – dem Judentum, das Christentum und dem Islam – wurde das Ezidentum in unterschiedlichem Ausmaß beeinflusst. Eine sehr wichtige Rolle auf ihre Entwicklung spielte vor allem der aus dem Libanon stammende Scheich Adi Ibn Musafir. Das Grab des 1162 verstorbenen Scheichs, den die Eziden als Heiligen verehren, befindet sich in Lalish. Dieser etwa 40 Kilometer nordöstlich der Stadt Mossul gelegene Ort ist zugleich auch das religiöse Zentrum der Eziden.

Ihre Identität ist geprägt durch ihre Religion und die damit zusammenhängenden Traditionen, Werte und Normen. Eine zentrale Bedeutung spielt die Verehrung eines Engels in der Gestalt eines Pfaus („Tausi Melek“ oder „Melek Taus“). Für die Eziden hat der „Engel Pfau“ dualistische Fähigkeiten wie das Feuer: er spendet Licht, kann zugleich zerstörerisch wirken; es verkörpert das Gute und das Böse in einer Gestalt.
Weil die Eziden genauso wie die meisten Kurden Kurmandschi sprechen, und kulturell mit ihnen viele Gemeinsamkeiten haben, werden sie nach vorherrschender Ansicht als ethnische Kurden betrachtet. Unter den Eziden selber gibt es aber auch eine Strömung, die sich trotz sprachlicher und kultureller Gemeinsamkeiten nicht als Kurden, sondern als eine eigenständige ethnisch-religiöse Gemeinschaft betrachtet. Die Betonung der ethnisch-religiösen Eigenständigkeit wurde dadurch verstärkt, dass die Eziden wegen ihres Glaubens von muslimischen Kurden oft verfolgt und unterdrückt wurden.

Die Eziden in islamischer Zeit

Die Geschichte Mesopotamiens ist gekennzeichnet durch zahlreiche, langandauernde Kriege und Eroberungen durch fremde Mächte. Mit dem von der Arabischen Halbinsel ausgehenden Siegeszug des Islam im 7. Jahrhundert begann eine neue Ära in der Geschichte Mesopotamiens. Vor allem für diejenige Gemeinschaft, die wie die Eziden nicht einer „Buchreligion“ (Juden und Christen) angehörten, hatte die islamische Herrschaft verheerende Folgen.

Das Siedlungsgebiet der Eziden in Mesopotamien war von 1623 bis 1639 Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem sunnitischen Osmanischen Reich und dem schiitischen Reich der Safawiden in Persien. Dieser Krieg endete schließlich mit dem Friedensvertrag von Qasr-e Shirin, wodurch die Osmanen die Herrschaft über Mesopotamien und das Hochland von Armenien erhielten und somit bis zum Ende des 1. Weltkrieges über das Leben der dort lebenden Aramäer, Armenier und Eziden bestimmten.

Obwohl die Eziden unter der arabischen, persischen oder osmanischen Herrschaft verfolgt und unterdrückt wurden, konnten sie ihre Identität bis ins 19. Jahrhundert hinein weitgehend bewahren. Im Gegensatz zu ihren christlichen Nachbarn waren sie bewaffnet, galten seit jeher als wehrhaft und konnten sich zumindest verteidigen. Für die osmanische Herrschaft stellten die zurückgezogen und friedlich lebenden Eziden keine ernsthafte Bedrohung dar.

Es waren ausgerechnet die mächtigen lokalen Kurdenführer, die für viele der Massaker an den Eziden im 19. Jahrhundert verantwortlich waren. Zwischen 1830-40 war es insbesondere der Kurdenführer Bedir Khan Bey, der die Eziden blutig unterdrückte. Während die christlichen Untertanen der osmanischen Herrscher zumindest auf die Hilfe europäischer Mächte hoffen konnten, gab es niemanden, der sich für den Schutz und die Rechte der Eziden einsetzte. So wurden die Eziden durch Massaker und gewaltsame Islamisierung ständig dezimiert.

Nachdem das zaristische Russland Anfang des 19. Jahrhunderts in den Südkaukasus vordrang und in mehreren Kriegen mit dem Osmanischen Reich Teile Ostarmeniens von den Osmanen eroberte, flohen manche Eziden in die von Russland kontrollierten Gebiete im Südkaukasus. Auch während des 1. Weltkrieges und in den Jahren danach flüchteten Eziden vor allem in die noch unter armenischer Kontrolle befindlichen ostarmenischen Gebiete, um nicht unter türkischer Herrschaft leben zu müssen. In sowjetischer Zeit wurde viel für die kulturelle Entwicklung der ezidischen bzw. kurdische Minderheit getan. Die gegenwärtig in der Republik Armenien und in Georgien lebenden Eziden befinden sich ökonomisch zwar in einer schwierigen Lage, aber sie können ihre eigene Identität weitgehend unbehelligt bewahren.

Die Eziden in der Türkei

Viele der in Deutschland lebenden mittlerweile mehr als 150.000 Eziden – das sind in etwa 10% der ezidischen Bevölkerung weltweit – stammen aus der Türkei. Ihr Exodus wurde durch die zunehmende Unterdrückung und Verfolgung nach dem Militärputsch vom 11. September 1980 hervorgerufen. Die systematische Stärkung des Islam als Staatsreligion und die sich verschärfende militärische Auseinandersetzung mit der kurdischen Freiheitsbewegung hatten für die Eziden und die kleine aramäische Bevölkerung im Südosten des Landes besonders dramatische Auswirkungen: ihre Dörfer wurden zerstört, ihr Eigentum geraubt und ihr Leben bedroht. Dafür verantwortlich war sowohl der türkische Staat als auch mächtige lokale Kurdenclans, die mit dem Staat zusammenarbeiteten und die sich ihnen bietende Gelegenheit nutzten, um sich das Eigentum der Eziden und Aramäer unrechtmäßig anzueignen. Im Zeitraum nach 1980 verließ fast die gesamte yezidische und aramäische Bevölkerung ihre Dörfer und flüchtete nach Deutschland, Schweden oder in andere EU-Länder.

Die Tragödie der Eziden Mesopotamiens

Trotz der schwierigen Bedingungen konnten die ethnisch-religiösen Minderheiten im irakischen Teil Mesopotamiens lange Zeit überleben. Die Aufteilung der Region nach dem 1. Weltkrieg führte dazu, dass die Eziden in der Türkei und Syrien von ihrer geistlichen Führung und ihrem religiösen Zentrum in Lalish im Irak abgeschnitten wurden.

Einen tiefgreifenden Einschnitt brachte der 1. Irakkrieg, der Anfang 1991 begann und die Verhältnisse in der Region grundlegend veränderte. Im März 2003 folgte dann der 2. Irakkrieg, der zu einem bis heute andauernden Kriegszustand im Land geführt hat. Mit der Entstehung und Ausbreitung des „Islamischen Staates“ und ihrer Invasion in den Irak im Sommer 2014 erreichte die Tragödie des Irak ihren bisherigen Höhepunkt. Von den Folgen dieser Invasion waren vor allem die im Grenzgebiet zu Syrien lebenden Eziden betroffen.

Die ethnisch-religiösen Minderheiten wie die Eziden oder Aramäer, die schutz- und wehrlos zwischen die Fronten geraten sind, stehen vor der Wahl entweder vernichtet zu werden oder aus ihrer Heimat zu fliehen.

Der Völkermord im Sindschar

Das im Nordosten des Irak liegende und an Syrien angrenzende Berggebiet von Sindschar zählt bis heute als ein bedeutendes Siedlungsgebiet der Eziden. Als 1915/16 des Völkermordes an den Armeniern und Aramäern stattfand, wurde Sindschar ein bedeutender Zufluchtsort für Aramäer und Armenier, die aus allen Teilen des Osmanischen Reiches in die Wüstengebiete Mesopotamiens deportiert wurden. Wer es schaffte, aus den Deportationskarawanen oder den Todeslagern zu entkommen, fand bei den Eziden im Sindschar Hilfe: Die Eziden, die in den Kriegsjahren selber ums nackte Überleben kämpfen mussten, gewährten ihnen Schutz, teilten ihre ohnehin knappen Lebensmittelvorräte mit ihnen und bewahrten sie so vor dem sicheren Tod. Die wiederholten Versuche der osmanischen Armee, die Auslieferung geflüchteten Armenier und Aramäer zu erzwingen, scheiterten am entschlossenen Widerstand der Eziden.

Fast 100 Jahre später wurden sie selbst Opfer eines Völkermordes: Im August 2014 fielen die Einheiten der IS in den Sindschar ein und verübten einen Völkermord an der schutzlosen ezidischen Zivilbevölkerung. Zentausende von Eziden flohen in das kurdische Autonomiegebiet, Tausende von Yezidinnen wurden von der IS verschleppt. Etwa 40.000 Eziden, die in die unzugänglichen Teile des Sindschar flüchteten, waren wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten. Erst Ende 2014 gelang es den Belagerungsring der IS zu durchbrechen und die Eingekesselten zu retten.

Durch die grauenhaften Verbrechen der IS wurde die Weltöffentlichkeit auf die bis dahin fast unbekannten Eziden aufmerksam. Eine UN-Kommission verurteilte die von der IS betriebene Vernichtung der Eziden als Völkermord. Ein Ende der Tragödie der Eziden ist nicht absehbar: Im Kurdischen Autonomiegebiet leben Hunderttausende von Flüchtlingen aus verschiedenen Teilen des Irak unter äußerst schwierigen Bedingungen. Die Infrastruktur des Autonomiegebietes ist der großen Zahl von Flüchtlingen nicht gewachsen. Wann und wie die Eziden wieder in ihre Dörfer zurückkehren können ist ungewiss.

Viele ezidische Familien wissen bis heute nicht, was mit ihren von der IS verschleppten Angehörigen – meist junge Frauen – passiert ist. Diejenigen, die aus der Gefangenschaft der IS fliehen konnten oder durch eine Lösegeldzahlung freigelassen wurden, sind durch ihre grauenhaften Erfahrungen während ihrer Verschleppung traumatisiert und benötigen psychologische Betreuung.

Exodus und Diaspora

Viele Eziden sehen inzwischen für sich keine Zukunft mehr in ihrer Heimat in Mesopotamien, wo ein Ende der Gewalt und ein gleichberechtigtes Leben nicht in Sicht sind. Dem Exodus der in der Türkei lebenden Eziden folgte in den vergangenen Jahren ihr Exodus aus dem Irak und Syrien.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion haben sich die Lebensbedingungen der Eziden in der Republik Armenien und in Georgien auch verändert. Auch wenn sie dort nicht wegen ihrer Religion verfolgt oder unterdrückt werden, so sind trotzdem zahlreiche Eziden wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage nach Westeuropa ausgewandert.

In der Diaspora sind die Eziden mit ganz neuen Problemen und Gefahren konfrontiert: Während im islamisch dominierten Nahen Osten ihre physische Existenz bedroht und sie gezwungen wurden, ihren Glauben aufzugeben und zum Islam zu konvertieren, sind sie in der Diaspora mit der Frage konfrontiert, wie sie ihre Identität bewahren und ihre traditionelle Lebensweise, ihre Werte und Normen in Einklang bringen mit dem Leben und den Verhältnissen in den westeuropäischen Metropolen.

Die Albert Sevinc Stiftung setzt sich für die Eziden ein

Vor dem Hintergrund der historisch engen Beziehungen zwischen diesen drei Völkern verfolgt die Albert Sevinc Stiftung mit besonderer Aufmerksamkeit die gegenwärtige Lage der Eziden in Syrien und dem Irak. Die Stiftung wird in Zusammenarbeit mit Eziden, ezidischen oder anderen interessierten Institutionen Projekte in Syrien und dem Irak unterstützen, um die durch Krieg und Vertreibung zerstörte Existenzgrundlage dieser Bevölkerungsgruppe wieder aufzubauen. Damit soll der drohenden vollständigen Zerstörung der historisch mannigfaltigen ethnischen, kulturellen und religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung des Nahen Ostens – und insbesondere Mesopotamiens – entgegengewirkt werden. Mit ihrer Unterstützung für die bedrohten Eziden will die Stiftung auch ein Zeichen der Solidarität zwischen den bedrohten Minderheiten Mesopotamiens setzen.

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