Die Aramäer

Die Region zwischen den zwei großen Flüssen im Nahen Osten, dem Euphrat und der Tigris, wird Mesopotamien genannt. Es ist eine Wiege der menschlichen Zivilisation und zugleich die Heimat der Aramäer. Die erste Erwähnung der Aramäer, die ein semitisches Volk sind, stammt aus dem 14. Jh. v. Chr. Dass die Aramäer ein bedeutendes Volk des Vorderen Orients waren, wird dadurch deutlich, dass ihre Sprache im 1. Jahrtausend v.Chr. die Verkehrssprache Vorderasiens war. Im Perserreich, das unter den Achämeniden seine größte Ausdehnung erreichte, war Aramäisch einer der offiziellen Reichssprachen. Insbesondere die Entwicklung der aramäischen Buchstabenschrift um 900 v.Chr. bedeutete eine große zivilisatorische Errungenschaft. Sie bildete die Grundlage für die folgenden semitischen Schriften und behielt bis in 7. Jahrhundert hinein ihre Bedeutung im Vorderen Orient. Danach setzte sich das Arabische durch.

Einen tiefgreifenden Einschnitt in der Geschichte der Aramäer brachte die Annahme des Christentums. Das Christentum breitete sich ausgehend von Palästina über das Siedlungsgebiet der Aramäer in Syrien und Mesopotamien nach Kleinasien und von dort nach Europa aus. Die Aramäer, die damals unter römischer Herrschaft lebten, waren die ersten, die das Christentum annahmen. Religion und Kirche besitzen für sie bis in die heutige Zeit eine sehr große Bedeutung. Allerdings haben die erbitterten innerkirchlichen Streitigkeiten in der damaligen christlichen Welt -vor allem im christlichen Ost-Rom bzw. dem Byzantinischen Reich – dazu geführt, dass sich die Aramäer im Laufe der Zeit unterschiedlichen Kirchenzweigen wie der Syrisch-Orthodoxen, der Syrisch-Katholischen Kirche oder der Syrisch-Maronitischen Kirche aufteilten.

Bis zum Aufkommen des Islam lebten die Aramäer meist unter der Herrschaft des Oströmischen bzw. Byzantinischen Reiches. Zwischen diesem und dem Sassaniden-Reich im Osten herrschten oft Kriege um die Vorherrschaft über Mesopotamien. Mit der Ausbreitung des Islam und des Rückzugs des Byzantinischen Reiches aus der Region kamen die Aramäer unter die Herrschaft der Kalifen. Nur nachdem Gebiete im heutigen Syrien und Libanon sich zeitweilig unter ihre Kontrolle der Kreuzfahrer befanden, kamen Teile der aramäischen Bevölkerung wieder unter christliche Herrschaft. Dies bedeutete aber auch, dass die katholische Kirche ihren Einfluss unter der aramäischen Bevölkerung auszudehnen versuchte. Die Zersplitterung der Kirche nahm bei den Aramäern ein Ausmaß an, das sich negativ auf die Einheit zwischen ihnen auswirkte.

Die Aramäer im Osmanischen Reich

Nach der Niederlage des Kreuzfahrerstaates kämpften die in Ägypten herrschenden Mameluken, die Osmanen und die Safawiden um die Vorherrschaft über das von den Aramäern bewohnten Gebiete in Syrien und Obermesopotamien. Im 15. Jahrhundert setzte sich schließlich das Osmanische Reich gegen seine Rivalen durch und herrschte bis zum Ende des 1. Weltkrieges über das Siedlungsgebiet der Aramäer.

Während der etwa 400 Jahre andauernden osmanischen Herrschaft gewannen die Kurden in Mesopotamien immer mehr Einfluss und Macht. Es war vor allem die ländliche aramäische Bevölkerung, die darunter zu leiden hatte. Im Gegensatz zu den christlichen Völkern auf dem Balkan oder den Armeniern zeigten die europäischen Großmächte keinerlei Interesse an den Aramäern im Vorderen Orient. Nur protestantische und katholische Kirchenkreise entdeckten im 19. Jahrhundert die in Vergessenheit geratenen östlichen Kirchen und versuchten deren Angehörigen für sich zu gewinnen.

Die Aramäer im osmanischen Vielvölkerreich hatten im Gegensatz zu den anderen zwei großen christlichen Völkern – den Griechen und den Armeniern – keinen großen wirtschaftlichen Einfluss; sie verfolgten auch keine national-staatlichen Ambitionen. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter den christlichen Untertanen des Osmanischen Reiches nationale Bewegungen entstanden und gegen die osmanische Herrschaft kämpften, wurde das Leben der Aramäer von dieser Entwicklung kaum beeinflusst.

Die in den südöstlichen Provinzen des Osmanischen Reiches lebenden Aramäer blieben von den politischen Entwicklungen in der Endphase des Osmanischen Reiches aber nicht unberührt. Ihr Siedlungsgebiet lag dort, wo die letzte Etappe der von Deutschland gebauten Bagdad-Bahn verlief. Obermesopotamien rückte nicht nur in das Blickfeld der deutschen, sondern auch der englischen Nahostpolitik. Erste Hinweise auf Erdölvorkommen in der Region förderten das wirtschaftliche Interesse der europäischen Mächte.

Die türkische Regierung nutzte den 1. Weltkrieg als eine willkommene Gelegenheit, um ihre expansionistische Politik mit Unterstützung Deutschlands zu verwirklichen. Gleichzeitig konnte sie ungestört die gewaltsame Türkisierung des Reiches durchführen. Die Anfang 1915 eingeleitete Vernichtungs-Politik richtete sich vor allem gegen die Armenier, denen Verrat und Kollaboration mit dem Kriegsgegner vorgeworfen wurde. Für die Deportation und Vernichtung der aramäischen Bevölkerung aus den östlichen Provinzen gab es nicht einmal einen Vorwand, sie wurden einfach genauso wie die Armenier deportiert und massakriert.

Der Völkermord an den Aramäern und Assyrern blieb lange Zeit als ein weitgehend unbekanntes Verbrechen. Sehr spät erst begannen die Aramäer sich ähnlich wie die Armenier für die Anerkennung des an ihren Vorfahren verübten Völkermordes einzusetzen. Ein wichtiger Erfolg ihrer Bemühungen war der Bundestagsbeschluss vom 2. Juni 2016. Darin wurde anerkannt, dass außer den Armeniern auch Angehörige der aramäisch/assyrischen und chaldäischen Gemeinschaften Opfer des Völkermords im Osmanischen Reich wurden.

Die Lage der Aramäer in der Türkei

Als 1923 die Türkei gegründet wurde, lebten dort nur noch wenige Aramäer. Im Vertrag von Lausanne (1923) wurden der armenischen, griechischen und jüdischen Religionsgemeinschaft gewisse Rechte eingeräumt, aber die überwiegend syrisch-orthodoxen Aramäer wurden nicht berücksichtigt. Die wenigen Aramäer, die den Völkermord überlebt hatten, führten im Südosten der Türkei ein abgeschiedenes Leben. Sie waren eine von der Welt vergessene Gemeinschaft, deren Überleben vom Wohlwollen des türkischen Staates und der kurdischen Nachbarn abhing.

Viele Aramäer zogen in den Jahren 1922-24 in das von Frankreich verwaltete Syrien oder in den Libanon. Auch der syrisch-orthodoxe Patriarch, der seinen Sitz im Kloster Deir Az- Zafaran in der Nähe der Stadt Mardin hatte, ging 1924 nach Syrien. Die verbliebene aramäische Bevölkerung der Türkei, die sich hauptsächlich im Gebiet von Mardin und Midyat konzentrierte, konnte sich trotz vieler Einschränkungen bis 1980 dort halten. Danach führte die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Nationalbewegung dazu, dass die Übergriffe gegen die Aramäer dramatisch zunahmen. Viele flüchteten angesichts des Krieges im Südosten der Türkei nach Europa. In der Region leben gegenwärtig nur noch etwa 3000 Aramäer. Die dort noch vorhandenen alten Klöster und Kirchen stellen ein bedeutendes Kulturerbe sowohl der Aramäer als auch der gesamten christlichen Welt dar.

Die Aramäer im Krisenherd Naher Osten

Nach dem Völkermord von 1915 und der Aufteilung des Nahen Ostens nach dem 1. Weltkrieg lebten die meisten Aramäer in Syrien, das sich unter französischer Kontrolle oder im Irak, dass sich unter britischer Kontrolle befand. Als Syrien und der Irak ihre Unabhängigkeit erlangten, hatte es keine großen Auswirkungen auf das Leben der christlichen Minderheiten. Sie führten ein unauffälliges Leben als Minderheiten und verhielten sich loyal gegenüber den jeweils an der Macht befindlichen Herrscher. Im Gegensatz zur der Politik Ankaras tolerierten die arabisch-nationalistischen Regime die religiös-kulturelle Selbstständigkeit der christlichen Minderheiten. Die Haltung der Araber gegenüber den Aramäern war historisch weitgehend unbelastet. Die Aramäer hatten seit dem 7. Jahrhundert der arabisch-islamischen Herrschaft unterworfen und lebten mit ihren arabischen Nachbarn meist in friedlicher Koexistenz. Problematisch waren eher ihre Beziehungen zur osmanischen Herrschaft und den Kurden, die – von der osmanischen Herrschaft begünstigt – sich im Siedlungsgebiet der Aramäer ausgebreitet hatten.

Der 2003 von einer breiten Koalition unter Führung der USA geführte Krieg gegen den Irak führte zu einer grundlegenden Veränderung der Lage in der Region. Und während die chaotischen Verhältnisse im Irak noch andauerten, brach 2011 im benachbarten Syrien ein Bürgerkrieg aus. Die gegen die Assad-Regierung kämpfende Opposition setzt sich aus verschiedenen extrem islamistischen Gruppierungen zusammen. Für die Aramäer in Syrien, die unter der Assad-Regierung keinen besonderen religiösen und kulturellen Restriktionen unterworfen waren, bedeutete der Ausbruch des Bürgerkrieges eine existenzielle Bedrohung. Die europäische Öffentlichkeit erfährt nichts über die dramatischen Folgen der Kriege in Syrien und dem Irak für die dortigen Aramäer und andere christliche Minderheiten. Bezeichnend für das Desinteresse ist, dass das Schicksal von zwei Erzbischöfen, die 2013 von Islamisten entführt wurden, fast völlig unbeachtet blieb. Der Erzbischof der syrisch-orthodoxen Kirche, Mor Gregorius Yoanna Ibrahim, und der Erzbischofs der griechisch-orthodoxen Kirche von Aleppo, Boulos Yazigi, die sich beide für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Opposition und der Regierung eingesetzt hatten, sind inzwischen vermutlich nicht mehr am Leben.

Die Tragödie der Aramäer hat durch die Invasion der IS eine neue Dimension erhalten. Die christlichen Einwohner Mosuls und der anderen unter die Kontrolle der IS gekommen Gebiete sind ins Kurdische Autonomiegebiet geflohen, wo sie unter schwierigen Bedingungen leben müssen. Es ist nicht absehbar, wann das Leiden der Menschen in diesen zwei Ländern enden wird. Sowohl die internationale Staatengemeinschaft als auch die Weltöffentlichkeit scheint sich mit dem endlosen Blutvergießen im Nahen Osten längst abgefunden zu haben.

Exodus und Diaspora

Für die in Syrien und dem Irak lebenden Aramäer und andere ethnisch-religiösen Minderheiten ist die Flucht nach Europa der einzige Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage. In Deutschland leben etwa 100.000 Aramäer, in der gesamten EU sind es 300.000. Diese Zahlen werden in den kommenden Jahren sicherlich weiter steigen, denn solange es keinen Frieden und ein sicheres Leben in Syrien und dem Irak gibt, werden noch mehr Menschen ihre Heimat verlassen.

Die Zukunft derjenigen, die zurückgeblieben sind, ist ungewiss. Ohne die Hilfe von außen, haben sie keine Chance dort zu überleben. Das Ende der letzten Reste der christlich-aramäischen Bevölkerung im Nahen Osten würde eine Tragödie historischen Ausmaßes bedeuten.

Für die Aramäer in der Diaspora geht es insbesondere darum, ihre Identität, Kultur und Sprache langfristig zu bewahren. Ein Volk, das keinen eigenen Staat besitzt, ist darauf angewiesen, dass seine Institutionen stark genug sind, um die Zukunft der Gemeinschaft unter den Bedingungen der Diaspora sicherzustellen. Es sind insbesondere die verschiedenen Kirchen, die dabei eine besondere Verantwortung tragen. Sie hat in der Geschichte die Funktionen des fehlenden eigenen Staates ausgeübt und beim Erhalt der Identität eine zentrale Rolle gespielt.

Angesichts der kurz dargestellten aktuellen Lage der Aramäer im Nahen Osten ist es dringend notwendig, dieser Bevölkerungsgruppe zu helfen. Die Aramäer haben für die Zivilisation und insbesondere für das Christentum einen großen Beitrag geleistet. Sie haben über 3000 Jahre allen Widrigkeiten zum Trotz in Mesopotamien und Syrien ein reiches kulturelles Erbe erschaffen. Es liegt in der Verantwortung der Menschheit, sich für die Existenz dieses Volkes einzusetzen und ihr kulturelles Erbe zu erhalten.

Der Stifter Albert Sevinc ist über die Lage der Aramäer sehr besorgt. Seine Vorfahren lebten früher in dem Ort Kaabiye in der Nähe Diyarbakirs und hießen Hadodo (aramäisch: Schmied). Sie zogen vor 400 Jahren von dort nach Midyat, das im traditionell aramäischen Siedlungsgebiet nahe der syrischen Grenze liegt. Der Stifter empfindet aufgrund seiner Herkunft und seiner Familiengeschichte eine besondere Verantwortung für die in existenzieller Not befindlichen Aramäer im Nahen Osten. In den Aktivitäten der Stiftung wird die Hilfe für sie aber auch deshalb von besonderer Bedeutung sein, weil sie von der Weltgemeinschaft völlig ignoriert werden.

Die Projekte der Albert Sevinc Stiftung für die Aramäer

Ein Schwerpunkt der Aktivitäten der Stiftung bildet die Unterstützung der aramäischen Bevölkerung in Syrien und Irak. In den Teilen Mesopotamiens, die in diesen Ländern liegen, lebt bis heute ein Großteil der aramäischen Bevölkerung. Durch den seit Jahren andauernden Krieg in der Region ist ihre Zukunft aber ungewiss.

Das im Nordosten Syriens gelegene Gouvernement al-Hasaka grenzt im Norden an die Türkei und im Osten an den Irak. Die Aramäer nennen diese Region Gozarto, es bildet eines ihrer Hauptsiedlungsgebiete in Syrien. Die zwei bedeutendsten Ortschaften der Region sind Qamischli und al-Hasaka, wo das Verwaltungszentrum liegt. Im Jahr 2003 hatte das Gouvernement schätzungsweise 175.000 Einwohner. Die Aramäer und Kurden bilden dabei die größten Bevölkerungsgruppen, gefolgt von den Arabern, Armeniern und Eziden. Nach dem 1. Weltkrieg hatten die Nachkommen der Überlebenden des Völkermords von 1915/16 in Gozarto ein neues Leben aufgebaut. Sie verfügen über zahlreiche Kirchen und auch eigene Schulen. Das Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen in der Region war bis vor Kriegsausbruch weitgehend friedlich.

Nachdem die Regierung in Damaskus ihre Streitkräfte aus der Region weitgehend abgezogen hatte, wurde das Machvakuum durch die kurdische Partei PYD und ihren militärischen Arm, die YPG, ausgefüllt. Als der „Islamische Staat“ versuchte, die Region einzunehmen, stießen sie auf den Widerstand der kurdischen Einheiten und den mit ihr verbündeten Selbstverteidigungskräften der Aramäer. Gozarto befindet sich gegenwärtig weitgehend unter ihrer Kontrolle. Die syrischen Truppen konnten sich lediglich in Enklaven in Qamischli und al-Hasaka halten.

Die vor Ausbruch der Kämpfe relativ große aramäische Bevölkerung Gozartos ist inzwischen auf etwa 70.000 zurückgegangen. Es leben dort auch nur noch wenige Tausend Armenier. Im Falle einer Eroberung durch die IS wäre die christliche Bevölkerung ohne Zweifel vollständig vernichtet worden. Inzwischen normalisiert sich das Leben, die Menschen versuchen ihre zerstörten Dörfer und die Infrastruktur wieder aufzubauen. Dies wird allerdings durch die andauernde Blockade der Türkei behindert. Sie versucht den wachsenden Einfluss der kurdischen Bewegung in Nordsyrien zurückzudrängen.

Der Wiederaufbau gestaltet sich auch wegen der isolierten Lage, dem noch andauernden Krieg und der Instabilität im benachbarten Irak sehr schwierig. Die Stiftung unterstützt die soziale und wirtschaftliche Entwicklung mit verschiedenen Projekten, die in Zusammenarbeit mit Kräften vor Ort umgesetzt werden. Durch eine nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen der aramäischen Bevölkerung soll dazu beigetragen werden, dass sie weiterhin in ihrer Heimat leben können.

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